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Sportsucht – Wo ist die Grenze?

Sportsucht – Wo ist die Grenze?

Wir laufen (Ultra-) Marathons, quälen unsere Muskeln und bringen den Körper an unsere Grenzen. Was ist dabei noch normal, und wo fängt Sucht an? Dr. Heiko Ziemainz über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Sportsucht und warum wir als Trainer das Thema ernst nehmen sollten.

Was bewegt Menschen dazu, Strecken zwischen 20 und 100 Kilometern zu laufen, und was hilft ihnen (mental), diese Distanzen zu überwinden? Suchthaftes Verhalten im Sport wurde bisher überwiegend im Zusammenhang mit der „Laufbewegung“ thematisiert (Stichwort „Laufsucht“, auch bekannt als „running addiction“ oder „exercise addiction“). Einige neuere Untersuchungen beschäftigen sich nun jedoch auch mit Fitnessstudiobesuchern, Kraftsportlern und Bodybuildern.
Aufgrund der positiven Auswirkungen von Sport etablierte sich zunächst ein positiv konnotierter Begriff der Abhängigkeit. Eine Definition, die erstmals negative Aspekte der Sportsucht in den Vordergrund stellte, lieferte in den 1970er Jahren William P. Morgan. Er orientierte sich an den klassischen Kriterien der Abhängigkeit und beschrieb Sportsucht als einen Zustand, bei dem der Betroffene in zwanghafter Art und Weise täglich Sport treiben „müsse“. Er leide an Entzugssymptomen, depressiver Stimmung, Aggressivität, Unruhe und Schlafstörungen, wenn er keinen Sport ausüben könne.
Inzwischen steht das Modell der negativen Sportsucht im Mittelpunkt und der Begriff „Sportsucht“ („exercise addiction“) hat sich als Oberbegriff für bewegungsbezogene Abhängigkeiten durchgesetzt.

Kriterien der Sportsucht

Sportsucht ist eine Erkrankung mit kognitiven, verhaltensverändernden und physiologischen Symptomen. William P. Morgan beschreibt die Symptom-Trias aus:
• Entzugssymptomen insbesondere psychischer Art,
• Zwanghaftigkeit (ohne Sport können alltägliche Anforderungen vermeintlich nicht bewältigt werden)
• Konflikte mit dem sozialen oder beruflichen Umfeld. Diese Trias kann durch die üblichen Kriterien für substanzgebundene Süchte des Klassifikationssystems der Weltgesundheitsorganisation* bzw. des Klassifikationssystems der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung** ergänzt werden: Entzugssymptome, Zwanghaftigkeit, Kontrollverlust, Konflikte in außersportlichen Lebensbereichen und Negierung negativer Konsequenzen.
Als Kriterien für Suchtindizien, die spezifisch für eine Sportsucht betrachtet werden können, führen die Leipziger Sportpsychologin Dorothee Alfermann und der Hallenser Sportpsychologe Oliver Stoll zusammenfassend folgende Aspekte auf:

1. Ausdauersüchtige Sportler sind sehr stark negativ motiviert (Vermeidung von Entzugssymptomen und Erledigungszwang).
2. Das Motiv, Ausdauersport zu betreiben, ist zum zentralen Motiv (mit Fixierungscharakter) geworden. Das Verhalten kontrolliert die Person, nicht umgekehrt.
3. Es treten starke (psychophysiologische) Entzugserscheinungen auf, wenn kein Sport gemacht werden kann.
4. Es kommt zur Missachtung körperlicher Signale der
Überlastung und in der Folge zu körperlicher Schädigung, zu (nicht ausheilenden) Verletzungen teilweise bis hin zu Todesfällen.
5. Ein sozialer Verfall (Zerrüttung der Ehe, defizitäres Wahrnehmen von Verantwortung in der Familie oder im sozialen Umfeld) wird immer wahrscheinlicher. Familie und Freunde können das Verhalten oft nicht nachvollziehen und es entsteht eine große Distanz.
6. Es werden immer größere Beanspruchungsmengen benötigt und toleriert.

„EXERCISE ADDICTION INVENTORY (EAI)“

Mit der Beantwortung dieser Sätze kann festgestellt werden, ob eine Sportsucht oder die Gefahr zur Sportsucht besteht. Die Sätze müssen bewertet und die Punkte im Anschluss addiert werden.
1 Training ist das Wichtigste in meinem Leben.
2 Es haben sich bereits Konflikte zwischen mir und meiner Familie und/oder meinem Partner bzgl. der Menge meiner Trainings ergeben.
3 Ich nutze Training als einen Weg, um meine Stimmung zu ändern (z.B. um mich aufzuputschen oder abzureagieren).
4 Mit der Zeit habe ich die Menge meines Trainings pro Tag erhöht.
5 Wenn ich ein Training ausfallen lassen muss, fühle ich mich launisch und reizbar.
6 Wenn ich die Unfang meines Trainings reduziere und dann wieder beginne, ende ich immer wieder bei dem Umfang, die ich vorher durchgeführt habe.

Bewertung:
Jeder Satz sollte nach folgendem Schema beantwortet werden:
Fast nie = 1 Punkt
Selten = 2 Punkte
Manchmal = 3 Punkte
Oft = 4 Punkte
Sehr oft= 5 Punkte

Die Summe der addierten Punkte ergibt nachfolgende Einschätzung:
Unter 12 Punkten: keinerlei Symptomatik.
13 bis 23 Punkte: Sportsuchtsymptome liegen vor.
24 Punkte oder höher: Es besteht ein erhebliches Risiko, eine Sportsucht zu entwickeln.

Primäre vs. sekundäre Sportsucht

Grundsätzlich sollte eine Unterscheidung in primäre und sekundäre Sportsucht erfolgen. Bei der primären Sportsucht dient der Sport dem Selbstzweck. Dies ist der Fall, wenn die Betroffenen zum Sporttreiben intrinsisch motiviert sind. Darüber hinaus sollte zwischen einer potenziellen Gefährdung und einer manifesten Störung unterschieden werden.
Bei der sekundären Sportsucht – die auch häufig in Verbindung mit Essstörungen auftritt (anorexieassoziierte Sportsucht) – sind die Betroffenen extrinsisch zum Sporttreiben motiviert. Primäres Ziel ist es häufig, Figur und/oder das Gewicht zu kontrollieren oder zu verändern, sodass das für andere sichtbar ist.
In einer französischen Untersuchung aus dem Jahr 2008 zeigte sich, dass 70 Prozent der Personen, die an einer Bulimie (Ess-Brech-Sucht) leiden, auch sportsüchtig zu sein scheinen.

Sportsucht tritt nicht häufig auf

Während über das Phänomen Sportsucht seit den 1970er Jahren diskutiert wird, berichten Kliniken und Sportpsychologen erst seit den frühen 1990er Jahren über eine steigende Anzahl von gefährdeten oder tatsächlich sportsüchtigen Patienten.
Bezugnehmend auf verschiedene nationale und internationale Untersuchungen, schwanken die Angaben zwischen 3 und 13 Prozent der Befragten, die als gefährdet eingestuft werden. Betrachtet man die Gesamtbevölkerung, kann von einer recht geringen Prävalenzrate ausgegangen werden, da nur ein kleiner Anteil überhaupt regelmäßig Sport betreibt.
In einer Studie aus dem Jahr 2012 einer Arbeitsgruppe aus Erlangen konnte an über tausend Ausdauersportlern und Ausdauersportlerinnen ein Wert von 4,5 Prozent sportsuchtgefährdeter Sportler dokumentiert werden. Der Anteil in der Gesamtbevölkerung dürfte somit deutlich niedriger liegen.
Eine Kölner Arbeitsgruppe um den Sportpsychologen Prof. Dr. Jens Kleinert schätzt, dass ca. jeder tausendste Sportler manifeste Störungsmerkmale aufweisen könnte und jeder zehntausendste Sportler behandlungsbedürftig sein könnte.

Ausdauersport bis dato im Fokus

Bisherige Untersuchungen stützen sich meist auf die Betrachtung von Ausdauersportarten (vor allem Laufen), während körperbildende Sportarten wie Fitnesstraining weitgehend unberücksichtigt blieben. Eine 2010 veröffentlichte Untersuchung von Bruce D. Hale konnte zeigen, dass bei Bodybuildern, Gewichthebern und Fitnesssportlern ebenfalls Personen mit Sportsucht/Sportsuchtgefährdung zu beobachten sind. Differenziertere Aussagen sind jedoch eher für den Ausdauersportbereich darstellbar.
So weisen Triathleten tendenziell höhere Sportsuchtwerte auf als andere Ausdauersportler. Dies könnte an der Breite der möglichen Aktivitäten beim Triathlon liegen. Die Möglichkeit, eine positive Stimmung zu erzeugen bzw. die entsprechende Dosis zu erreichen, ist durch die höhere Anzahl der zu trainierenden Sportarten vermutlich eher gegeben.
Allerdings könnte es u.a. darin begründet sein, dass die Verwirklichung sekundärer Ziele (z.B. Gewichtsreduktion) eher durch die Ausübung von drei Sportarten zu realisieren ist. Die Möglichkeiten sind groß und eine Gefahr besteht oft.

Die Rolle von Geschlecht und Alter

Jüngere Menschen tendieren eher zur Sport- sucht, da sie stark von Idealen geleitet werden

In Bezug auf Geschlechtsunterschiede bei Sportsucht zeigen sich in neueren Untersuchungen keine bedeutsamen Unterschiede. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Geschlechter hinsichtlich der Sportmotive unterscheiden. So gaben Frauen vermehrt an, Sport auszuüben, um ihr körperliches Erscheinungsbild zu verbessern, wohingegen bei Männern der Faktor „Leistungserbringung und Muskelaufbau“ im Vordergrund stehen.
Die Variable „Alter“ weist hingegen einen statistisch bedeutsamen Unterschied bezüglich der Prävalenz von Sportsucht auf. Gerade jüngere Athleten zeigen deutlich höhere Werte. Dies könnte daran liegen, dass die Tätigkeit nicht um ihrer selbst willen betrieben wird, sondern um sekundäre Ziele wie Gewichtsreduktion, Verbesserung des Selbstvertrauens, Identitätsstärkung etc. zu erreichen.
Athleten, die über mehrere Trainingsjahre verfügen, berichteten von einem höheren Sportsuchtscore als Athleten mit einer geringeren Anzahl an Trainingsjahren. Zum anderen zeigten sich bei den Belastungsnormativen „Trainingshäufigkeit“ und „-umfang“ ebenfalls bedeutsame Unterschiede, und zwar dahingehend, dass die Athleten mit höheren Umfängen über einen höheren Sportsuchtscore verfügen als Athleten mit geringeren Umfängen.

Trainer können eine Sportsucht erst im direkten Austausch mit Kunden erkennen. Aber: eine wirkliche Sportsucht tritt selten auf!

So erkenne ich eine Sportsuchtgefährdung

Grundsätzlich erscheint es für den Laien schwierig zu erkennen, ob bei einer Person eine Sportsucht oder eine Gefährdung zur Sportsucht vorliegt. Hilfe leisten können sechs Fragen des „Exercise Addiction Inventory (EAI)“ (siehe Kasten). Der EAI ist ein kurzer Selbstberichtsfragebogen, der vom amerikanischen Sportpsychologen Peter Terry entwickelt wurde. Mit seiner Hilfe kann herausgefunden werden, ob es sich um Personen ohne Sportsuchtsymptome, Personen mit einigen Sportsuchtsymptomen oder um Personen mit einem Risiko zur Sportsuchtentwicklung handelt.

Betroffene sind therapiebedürftig

Solltest du als Trainer Bedenken haben oder sollten Hinweise vorhanden sein, dass bei einem deiner Kunden eine Sportsucht oder Gefährdung zur Sportsucht vorliegt, solltest du ihm unbedingt empfehlen, Rat bei einem Psychotherapeuten oder bei einem Sportpsychologen einzuholen. Grundsätzlich gilt: Auch wenn die Sportsucht als eigenständige Grunderkrankung in Standardwerken nicht auftaucht, sind erkrankte Personen, wie auch andere Suchterkrankte, therapiebedürftig.

* Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10)
** Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder-IV (DSM-IV)

 

Dr. Heiko Ziemainz | Privatdozent und akademischer Direktor am Department für Sportwissenschaft und Sport der Universität Erlangen-Nürnberg. Er betreut seit über 20 Jahren sowohl Profi- als auch Breitensportler in „Mentaler Fitness“ und ist selbst seit über 30 Jahren im Ausdauersport aktiv. www.mental-stark-im-sport.de

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